Österreich: "Ist Demokratie jetzt die neue Religion?"

In Österreich wird seit Anfang Juni über den Religionsunterricht diskutiert, nachdem der Wiener Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) vorgeschlagen hatte, ein eigenes Fach „Leben in einer Demokratie“ einzuführen - anstelle des verpflichtenden Religionsunterrichts.

Der Anlass für den Vorstoß der liberalen Partei Neos war eine Untersuchung, aus der hervorgeht, dass in den Wiener Grundschulen 35 Prozent der Kinder muslimisch, 26 Prozent ohne Bekenntnis, 21 Prozent katholisch, 13 Prozent orthodox und je zwei Prozent evangelisch sind bzw. einer anderen Konfession angehören. Neos argumentierte, dass eine so diverse Gesellschaft dringend ein gemeinsames Wertefundament bräuchte und dies durch ein verpflichtendes gemeinsames Unterrichtsfach „Demokratie“ für alle Kinder erreicht werden könnte. Aus Religionsgemeinschaften und anderen Parteien erntete der Vorstoß sofort Widerspruch.

In einem Gastkommentar warnt Professor Ulrich Körtner davor, Religion durch das Pflichtfach Demokratie zu ersetzen. „Ist Demokratie jetzt die neue Religion?“ Dieser Frage geht der evangelische Theologe Ulrich Körtner mit Bezug auf eine aktuelle politische Debatte in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung „Die Presse“ vom 14. Juni 2024 nach. Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

„Religion ist ein ambivalentes Phänomen“, schreibt Körtner. Sie könne Humanität, Gemeinschaft und Solidarität fördern, aber auch gefährden. Die Religionsgeschichte sei reich an Beispielen für das eine wie für das andere. „Religion kann Menschen zusammenführen, aber auch trennen. Die Neos richten den Blick vor allem auf die Menschen trennende und gewaltaffine Seite von Religion, wobei offenkundig der Islam im Fokus steht“, kritisiert er.

Zwar werde die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit von den Neos gutgeheißen, „aber in ihrer Petition mit einem gewissen Argwohn betrachtet, weil unter ihrem Deckmantel demokratiefeindliche Einstellungen gedeihen können“, so Körtner. „Die Konsequenz daraus sollte aber nicht Verbannung der Religionen aus den öffentlichen Schulen sein, sondern die Erziehung der Schüler zu einem reflektierten und kritischen Umgang mit Religion. Das aber ist der Anspruch eines wissenschaftlich fundierten Religionsunterrichts“, betont der Theologe. Er warnt davor, dass die Verbannung von Religion aus dem Schulunterricht destruktive Kräfte ins subkulturelle Milieu und in geschlossene Gruppierungen dränge. Diese seien ein Nährboden für Fundamentalismen aller Art.

Körtner warnt zugleich vor Überhöhung der Demokratie zur neuen Religion, wie sie auch im Slogans der Neos, „Unser Glaube heißt Demokratie“ zum Ausdruck kommt. „Die Demokratie verdient als Staatsform jede Unterstützung. Sie ist aber kein Glaubensgegenstand – und darf es auch nie werden, weil jeder religiös überhöhte Staat und jede solchermaßen überhöhte Staatsform mit einem religiösen Absolutheitsanspruch verbunden wird, der letztlich freiheitsgefährend ist“, so Körtner. Für die Zukunft des Landes und Europas komme es schließlich entscheidend darauf an, dass Religion und die einzelnen Religionen nicht einseitig als Bedrohung, sondern als Ressource einer modernen Gesellschaft begriffen und gefördert werden.

https://evang.at/koertner-reflektiert-kritischer-umgang-mit-religion-statt-verbannung-aus-schulen/

In ihrem Gastbeitrag für die Tageszeitung „Der Standard“ vom 16. Juni 2024 betonten der Bischof der Evangelischen Kirche in Österreich, Michael Chalupka, und Kirchenrätin für Bildung, Kim Kallinger, dass der Religionsunterricht für eine Demokratie wichtige Kompetenzen und Werte vermittle. Wer religiöse Bildung ins Private zurückdrängen will, trage jedoch zum Missbrauch von Religion und damit auch der Radikalisierung bei. Der Vorschlag für die Abschaffung des verpflichtenden Religionsunterrichts unterstelle außerdem implizit, so Chalupka und Kallinger, „dass Menschen ohne Religion automatisch eine demokratischere Gesinnung hätten“.

https://evang.at/chalupka-und-kallinger-betonen-demokratiestaerkenden-wert-des-religionsunterrichts/

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