Vortrag „Die Kirche Jesu Christi als Diaspora aus kleinen und großen Kirchen“

GAW-Präsident Dr. Martin Dutzmann hielt seinen Vortrag „Die Kirche Jesu Christi als Diaspora aus kleinen und großen Kirchen“ in Auszügen auf der Mitgliederversammlung des GAW Kurhessen-Waldeck am 7.11.2022 in Kassel.

Die Kirche Jesu Christi
als Diaspora aus kleinen und großen Kirchen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,

seit dem 1. Januar dieses Jahres bin ich Präsident des Gustav-Adolf-Werkes, des „Diasporawerkes der Evangelischen Kirche in Deutschland“. Diaspora – damit hatte ich zuvor nur punktuell zu tun. Als Student habe ich mehrere Wochen in einer reformierten Gemeinde im Süden Frankreichs – aus evangelischer Sicht tiefste Diaspora – ausgeholfen. Als lippischer Landessuperintendent hatte ich Kontakt zu den reformierten Partnerkirchen der Lippischen Landeskirche etwa in Litauen, Polen und Rumänien, die in ihren jeweiligen Gesellschaften eine – zum Teil winzig kleine – Minderheit darstellen. Ansonsten war mein berufliches Leben als Pfarrer und in kirchenleitenden Ämtern davon geprägt, dass die Kirche, in der und für die ich arbeitete, selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft war.

Als ich das neue Amt antrat, musste und wollte ich mich deshalb vertieft mit dem Thema Diaspora befassen und mir kamen schnell vor allem zwei Fragen. Die erste Frage stellte sich mir auf dem Hintergrund, dass in diesem Jahr 2022 die Christen in Deutschland zum ersten Mal seit hunderten von Jahren in der Minderheit sind. Ich erlebe, dass dieser Umstand nicht wenige haupt- und ehrenamtlich in der Kirche Mitarbeitende bedrückt, ja entmutigt: Ist der Einsatz für die Kirche eigentlich noch sinnvoll, wenn die Leute scharenweise aus ihr austreten? Lohnt der große Aufwand der Gottesdienstvorbereitung, wenn kaum einer mehr mitfeiert? Sind die gesellschaftlichen Gegenkräfte von Säkularisierung, Pluralismus und Individualismus womöglich zu stark, als dass die Kirche ihnen mit ihren Traditionen etwas Attraktives entgegenzusetzen hätte?  Angesichts solch verzagter Fragen liegt mit Blick auf die Minderheitskirchen (und fast alle evangelischen Kirchen in der Welt sind Minderheitskirchen!) diese Frage nahe: Könnte es sein, dass evangelische Kirchen, die zum Teil jahrhundertelange Erfahrungen als Minderheit haben, uns, die wir als Kirche in Deutschland gerade zur Minderheit werden, Wichtiges zu sagen haben? Könnte es sein, dass das Hören auf sie uns, die wir gerade unseren Einfluss schwinden sehen, tröstet und ermutigt? Oder ist der Unterschied zwischen Kirchen, die immer schon in der Minderheit waren und solchen, die aus einer staats- bzw. volkskirchlichen Vergangenheit kommen, doch zu groß? Die zweite Frage bewegt mich in meinem neuen Amt als Präsident des GAW: Wenn wir von unseren Partnerkirchen lernen können und müssen – welche Auswirkungen hat das eigentlich für die Arbeit und Struktur des Gustav-Adolf-Werkes? Diasporaarbeit wäre dann jedenfalls mehr als die materielle Unterstützung von Minderheitskirchen, so wichtig diese angesichts unterschiedlicher Ressourcen bleibt. Aber es wären neben Geldsammlungen verstärkt auch Austausch und Dialog zu organisieren. Müssten dann aber nicht Vertreterinnen und Vertreter von Partnerkirchen in den Entscheidungsgremien des GAW Sitz und Stimme haben so wie es inzwischen in mehreren Missionswerken der Fall ist?

Es dauerte nicht lange, bis ich entdeckte, dass dies nicht nur meine Fragen waren. Vor allem aber begriff ich bald, dass ich künftig zwischen „Minderheit“ und „Diaspora“ genauer als bisher würde unterscheiden müssen.

Zunächst stieß ich auf eine Arbeit des argentinischen Theologen René Krüger, Mitglied der GAW-Partnerkirche am Rio de la Plata. Seine Untersuchung aus dem Jahr 2011 ist im Verlag des Gustav-Adolf-Werkes veröffentlicht und trägt den Titel: „Die Diaspora. Von traumatischer Erfahrung zum ekklesiologischen Paradigma.“ Krüger hätte auch schreiben können: Diaspora. Von einem Begriff, der einmal eine traumatische Erfahrung beschrieb, zu einem Schlüsselbegriff, der beschreibt, was die Kirche Jesu Christi in ihrem Wesen ausmacht. Krüger legt in seiner Arbeit zunächst kenntnis- und detailreich dar, welche Rolle die Diaspora in der Hebräischen   Bibel, in der Epoche zwischen Altem und Neuem Testament und dann im Neuen Testament spielt. Seine historische Untersuchung mündet in grundsätzliche Überlegungen zur Diaspora. Zunächst stellt Krüger fest: „Das heutige Voranschreiten der Säkularisierung, die Vermehrung anderer Angebote auf dem weiten religiösen Markt und das Schwinden von Solidarität und der Bereitschaft zum Engagement bilden eine neue weltweite Diasporasituation, sowohl für die Minderheitskirchen wie auch für die Kirchen, die einst eine entscheidende Rolle in der Herausbildung der Mentalitäten und der Lebensstile ganzer Länder und Kontinente gespielt haben oder sie immer noch spielen.“ (129). Mit der letzten Gruppe sind ganz sicher auch die EKD und ihre Gliedkirchen gemeint. Diese Beobachtung einer für alle Kirchen gegebenen Diasporasituation nimmt Krüger zum Anlass, den griechischen Begriff „Diaspora“ genauer zu betrachten. Das Wort “Diaspora“, so Krüger, besteht aus zwei Teilen, wobei der zweite, sporá, entscheidend ist. Spora bedeutet Säen bzw. Saat. Krüger folgert: „Aus dieser Perspektive … besteht das Hauptmerkmal der Diasporasituation nicht in Zerstreuung, Zersetzung und Dispersion, sondern in der Möglichkeit, das Evangelium auszusäen.“ (134) Diaspora bezeichnet bei Krüger also nicht weniger als das Wesen der Kirche Jesu Christi: „Es geht nicht mehr darum, in der Diaspora zu leben, sondern Diaspora zu sein.“ (135) 

In der Spur René Krügers bewegt sich das Studiendokument der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) „Theologie der Diaspora“, das 2012 von der Vollversammlung der GEKE in Florenz in Auftrag gegeben wurde. Neuerdings liegt in der Reihe focus – das ist das Magazin der GEKE – eine sehr lesenswerte Kurzfassung vor. Ihr Titel: „Beziehungsreichtum. Die Diaspora der Kirche als gemeinsame Aufgabe.“ Der GEKE geht es wie Krüger darum, dem Begriff „Diaspora“ seinen negativen Klang zu nehmen, der Diasporakirchen als klein, unbedeutend und wenig leistungsfähig erscheinen lässt; als Kirchen eben, die in erster Linie hilfsbedürftig sind. Stattdessen wird wie schon von Krüger darauf hingewiesen, dass das Wort „Diaspora“ es ja mit Säen und Saat zu tun hat: „Diaspora drückt dann die Vorstellung aus, dass die Kirche von Gott in die Welt und zu den Menschen ‚eingestreut‘ ist …, um Kraft des Evangeliums als Aussaat gute Frucht zu bringen, für sich selbst und für andere.“ Entscheidend ist dann nicht mehr, ob eine Kirche klein oder groß, in der Minderheit oder in der Mehrheit, arm oder reich ist, sondern ob sie als Diaspora, als in die Welt eingestreute Kirche, in Beziehung zu den Menschen und zu ihrer Gesellschaft steht. Das gilt gleichermaßen für die winzig kleine Reformierte Kirche in Polen wie für die unter völlig anderen Bedingungen lebende Evangelische Kirche am Rio de la Plata in Argentinien und die immer noch große und einflussreiche Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer staatskirchlichen Vergangenheit.

Versteht man mit René Krüger und dem Studiendokument der GEKE den Begriff „Diaspora“ grundsätzlich als Wesensbestimmung der Kirche Jesu Christi und mir leuchtet das ein - nicht zuletzt auf Grund der Gleichnisse Jesu, die es mit dem Säen und der Saat zu tun haben -, dann hat das Konsequenzen.

Eine erste Konsequenz ist die, dass es keine Trennlinie zwischen den großen Kirchen etwa in Nord- und Westeuropa und den so genannten „Diasporakirchen“ mehr geben kann. René Krüger erinnert in diesem Zusammenhang an das Bild der Kirche als Leib Christi, das Paulus im 1. Korintherbrief entfaltet: „Es gibt keine reichen Kirchen in einem bestimmten Land auf der einen Seite und arme ‚Diasporakirchen‘ in einem armen Land auf der anderen. Es gibt jedoch reiche Mitglieder und arme Mitglieder derselben allgemeinen Kirche. Manche ballen sich an bestimmten Orten und Ländern zusammen und andere mehr an anderen Orten der Welt. Hier ist es wichtig, das Paradigma der Diaspora mit dem biblischen Bild des einen Körpers zu verbinden, der zwar auf der ganzen Welt zerstreut ist, jedoch von unzerreißbaren Banden zusammengehalten wird, die zu erhalten und zu stärken sind…“ 

Eine zweite Konsequenz aus dem weiten Diasporabegriff ist die, dass unter seinem „Dach“ die besonderen Stärken (und Schwächen) der unterschiedlichen Kirchen in gleicher Weise sichtbar werden. Das Bild von der starken deutschen Kirche, die gemäß Gal 6, 10 den „Glaubensgenossen“ Gutes tut, also den Geschwistern in kleineren und (finanz-)schwächeren Kirchen hilft, wird durch ein differenziertes Panorama von unterschiedlich verteilten Stärken und Schwächen abgelöst. So ist eine große Stärke etwa der EKD und ihrer Gliedkirchen ihre immer noch vorhandene große Finanzkraft sowie ihr immer noch gegebener politischer Einfluss. Beides versetzt sie in die Lage, als Diaspora in der deutschen Gesellschaft verkündigend und seelsorgerlich, bildend und diakonisch präsent zu sein und andere Kirchen materiell zu unterstützen. Das ist wahrlich nicht gering zu schätzen. Dem stehen die Stärken kleiner und sehr, kleiner Kirchen gegenüber. Das Studiendokument der GEKE redet sogar von Minderheitskirchen als „Avantgarde“  

  • weil sie zeigen, dass man als Kirche auch mit geringen Ressourcen lebendig und lebensfähig sein kann
  • weil sie oft kreativ andere als finanzielle Mittel ersonnen haben, um mit Herausforderungen umzugehen
  • weil sie nicht meinen, alles tun zu müssen, sondern gelernt haben, Schwerpunkte zu setzen
  • weil sie mit kirchlichen und nicht-kirchlichen Partnern zu kooperieren wissen
  • weil internationale Verbindungen für sie selbstverständlich sind
  • weil sie keine Rücksicht auf verbriefte Rechte oder Privilegien nehmen müssen und deshalb in ihren öffentlichen Äußerungen frei sind.

Das ist nicht wenig. Den Begriff der Avantgarde, den die GEKE verwendet, würde ich allerdings meiden. Auch wenn Minderheitskirchen oft Erstaunliches leisten, gibt es keinen Grund, ihre mitunter beschwerliche Situation zu idealisieren.

Eine dritte Konsequenz des weiten Diasporabegriffes betrifft schließlich das Gustav-Adolf-Werk als „Diasporawerk der Evangelischen Kirche in Deutschland“: Wenn kleine und große, arme und reiche Kirchen gemeinsam Diaspora sind, „eingestreut“ in ihre jeweiligen Kontexte und berufen, dort Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, dann gilt es, die jeweiligen Stärken zusammenzuführen, damit die Diaspora an allen Orten Frucht bringt. Das aber erfordert zweierlei:  Zum einen sollte sich dieses Verständnis von Diaspora in den Strukturen des Werkes widerspiegeln. In diese Richtung weist auch eine Bemerkung René Krügers, der es für notwendig hält, „nicht nur das alte Patenschaftsschema als Konzeptualisierung der Beziehung zwischen größeren und mit mehr Mitteln versehenen Kirchen und kleineren, ärmeren Kirchen (den klassischen ‚Kirchen der Diaspora‘) zu überwinden.“ Krüger spitzt zu: „Sogar der Begriff der Partnerschaft muss überwunden werden. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass sich alle Mitglieder der allgemeinen Kirche als Glieder eines einzigen, weltumspannenden Leibes Christi ansehen.“ Wie aber kann das in den Strukturen des GAW abgebildet werden? Die Missionswerke in Deutschland standen vor derselben Frage, nachdem sie erkannt hatten, dass Mission keine Einbahnstraße vom Norden in den Süden ist, sondern gemeinsame Aufgabe aller Kirchen. Einige, darunter die Vereinte Evangelische Mission (VEM) mit Sitz in Wuppertal, haben ihre Strukturen daraufhin konsequent internationalisiert, was allerdings aufwändig und nicht ohne Schwierigkeiten ist. Das GAW wird hier, schon weil es mit 40 Kirchen in 50 Ländern verbunden ist, einen anderen Weg gehen müssen. Denkbar wäre, dass etwa die GEKE mehrere Vertreterinnen oder Vertreter ihrer Mitgliedskirchen in die Delegiertenversammlung des GAW entsendet, wo sie dann mit Sitz und Stimme über die Politik des Werkes mitentscheiden. Auch der Vorstand könnte international ergänzt werden, was mit den uns in der Pandemie zugewachsenen digitalen und hybriden Möglichkeiten gemeinsamen Tagens jedenfalls kein technisches Problem darstellen dürfte. Auch sprachliche Probleme müssten sich lösen lassen. Das zweite Erfordernis eines umfassenden Diasporabegriffs ist eine Verständigung über die besondere Aufgabe des Gustav-Adolf-Werkes im Verhältnis etwa zu den Missionswerken, aber auch zu den Entwicklungswerken wie „Brot für die Welt“ und vor allem zu den Organisationen, die dem GAW sehr ähnlich sind. Das sind der Martin-Luther-Bund, die Aktionen „Kirchen helfen Kirchen“ und „Hoffnung für Osteuropa“ sowie die Evangelische Partnerhilfe. Die Richtung, in die es gehen könnte, scheint mir nach dem Gesagten weniger unser Leitwort „Weltweit Gemeinden helfen“ als vielmehr der Titel unserer Zeitschrift „Evangelisch weltweit“ zu sein. Wie können wir als evangelische Kirchen auf der ganzen Welt einander darin unterstützen, in geistlicher Gemeinschaft, theologischem Austausch und mit materieller Hilfe unser evangelisches Profil zu schärfen? Wie können wir einander helfen, in unseren jeweiligen Gesellschaften überzeugend in Wort und Tat die Freiheit eines Christenmenschen zu bezeugen, der niemandem als Christus allein untertan ist, sich aber den Mitgeschöpfen gegenüber unbedingt verantwortlich weiß? Dass dies nicht nur in Diktaturen und autokratischen Systemen eine dringende Aufgabe ist, liegt auf der Hand.

Nach diesen theoretischen Überlegungen zum Thema „Diaspora“ soll es nun etwas anschaulicher werden. Ich möchte kurz mit Beispielen darstellen, wie Kirchen in ihrem jeweiligen Kontext ihre „Einstreuung“, ihr Diasporasein, konkret werden lassen, indem sie Beziehungen aufbauen und Verantwortung übernehmen. Dazu werde ich zunächst auf meine Erfahrungen als Bevollmächtigter des Rates der EKD in Berlin und Brüssel zurückgreifen und dann von Projekten und Gemeinden berichten, die der Generalsekretär des GAW und ich in der ersten Oktoberhälfte in Argentinien und Brasilien besuchten. Alles zusammen macht uns hoffentlich Mut, uns trotz Gegenwindes und sinkender Gemeindegliederzahlen weiterhin dafür einzusetzen, dass die evangelische Stimme in der ganzen Welt vernehmbar bleibt.

Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen sind zwar rechtlich vom Staat getrennt, zugleich aber durch ein dichtes Geflecht von Beziehungen mit ihm verbunden. Der Staat steht allen Religionsgemeinschaften, also auch der Evangelischen Kirche, in „fördernder Neutralität“ gegenüber. So hat es einmal das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt. So sind der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und die Mitwirkung der Kirchen daran durch das Grundgesetz garantiert. Ähnliches gilt für die Militärseelsorge und die Seelsorge in Krankenhäusern und Gefängnissen. Sehr viel anderes wäre hier außerdem zu nennen. In allen diesen Bereichen ist die Kirche in die Gesellschaft „eingestreut“, ist sie Diaspora, die in Wort und Tat von Gottes Liebe und von Gottes Gebot Zeugnis ablegt. Das Verhältnis von Kirche und Staat mitzugestalten, ist in besonderer Weise Aufgabe des Bevollmächtigten (neuerdings: der Bevollmächtigten) des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Dieses Amt hatte ich fast neun Jahre lang inne und habe es gerne ausgefüllt. Dabei habe ich mich immer zuerst als Pastor verstanden, der den Abgeordneten des Bundestages und den Mitarbeitenden in den Ministerien mit geistlichen Angeboten und seelsorgerlicher Präsenz zur Verfügung steht. Zugleich habe ich mich – gefragt oder ungefragt - im Auftrag von Rat und Synode immer auch in den politischen Diskurs und besonders in Prozesse der Gesetzgebung eingemischt. Diaspora, Einstreuung in die Gesellschaft, geschieht dann in Einzelgesprächen, durch öffentliche und nicht-öffentliche Stellungnahmen und manchmal durch eine Presseerklärung. Solche Einlassungen werden fast immer gemeinsam mit der katholischen Kirche getätigt und beziehen sich in besonderer Weise auf lebensethische Themen wie den Schwangerschaftsabbruch, die Organspende oder die Sterbehilfe, aber durchaus auch auf wirtschaftsethische Fragen wie das inzwischen beschlossene Lieferkettengesetz sowie auf friedensethisch motivierte Forderungen wie die nach einem restriktiven Export deutscher Rüstungsgüter. Dass der oder die Bevollmächtigte auch die Interessen der Institution Kirche vertritt, also Lobbyist ist, sei der Vollständigkeit halber erwähnt, doch liegt hier nicht der Schwerpunkt der Tätigkeit. In erster Linie geht es darum, Diaspora zu sein, also das Evangelium in die politischen Prozesse einzustreuen, denn die beeinflussen mittelbar oder unmittelbar das Leben aller Menschen im Land.

Auch bei der Reise nach Argentinien und Brasilien, die der Generalsekretär des GAW, Enno Haaks und ich unlängst unternahmen, sind wir auf eine Kooperation zwischen Kirche und Staat gestoßen, die sich allerdings eher zufällig ergeben hat und nicht wie in Deutschland verfassungsrechtlich verankert ist. Der Gesundheitsminister der argentinischen Provinz Misiones war während einer öffentlichen Aktion auf die Diakoniestiftung der GAW-Partnerkirche am Rio de la Plata, Hora di Obrar, zugegangen. Ob man nicht in Sachen sexueller Aufklärung und reproduktiver Rechte sowie der Gemeinwesenentwicklung und der Unterstützung indigener Minderheiten zusammenarbeiten könne. Die Stiftung willigte ein, lässt sich doch auf diese Weise das Evangelium leichter in die Gesellschaft einstreuen, als wenn man die Unterstützung durch den Staat nicht hätte. So wurde ein Rahmenvertrag geschlossen, bei dessen Unterzeichnung wir GAW-Vertreter anwesend sein durften. (Bilder) Im Gespräch mit dem Minister waren Kirche und Staat sich einig, dass Gesundheitspolitik stets ganzheitlich anzulegen ist, dass also immer auch bildungs- und gesellschaftspolitische Aspekte mit zu bedenken sind. Wie notwendig das auch in Deutschland ist, hat sich deutlich während der Pandemie gezeigt, als aus medizinischen Gründen Schulen geschlossen und Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zurückgeworfen wurden.

Ein Gegenstand des Vertrages zwischen der Diakoniestiftung und der Provinz Misiones ist die Unterstützung indigener Minderheiten. Hier ist die Stiftung schon lange tätig, zum Beispiel mit der Schule von Takuapi. (Bild) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts siedelten sich in Misiones zunehmend europäische Einwanderer an und verdrängten die Guaraní-Indigenas aus ihrem angestammten Lebensraum. Diese wurden gezwungen, sesshaft zu werden. Ein neues Indigenen-Dorf entstand in Takuapi, unweit von Ruiz de Montoya, einer Kolonie evangelischer Schweizer. Die Guaraní begannen, sich mit Lebensgewohnheiten, Sprache und Denkweise der weißen Siedler auseinanderzusetzen. Auf ihren Wunsch hin gründete ein Lehrerehepaar 1980 eine Schule, wo zunächst alle Generationen gemeinsam die spanische Sprache lernten. Die Schule wuchs und wurde schließlich vom argentinischen Staat als „Instituto Aborigen Bilingüe Takuapi“ anerkannt. „Weiße“ und Guaraní sind inzwischen gemeinsam als Lehrerinnen und Lehrer tätig (Bild). In den ersten Klassen sind alle Lehrmittel zweisprachig (Bild) und nehmen auch inhaltlich Bezug auf die Welt der Guaraní. So hilft die Schule den Kindern, die spanische Sprache und die argentinische Kultur kennenzulernen und lehrt die Kultur und Sprache der Guaraní. Dank einer Schulküche ist auch die Mangelernährung der Schülerinnen und Schüler zurückgegangen (Bilder). Begleitet wird die Arbeit von der engagierten Schweizerin Barbara Schoch (Bild); zurzeit arbeiten auch zwei Freiwillige aus Westfalen bzw. Bayern mit. Das GAW hat dieser beeindruckenden Schule bereits mehrfach geholfen. Takuapi ist ein überzeugendes Projekt, wird doch hier das Evangelium von der Freiheit eines Christenmenschen in überzeugender Weise in die Gesellschaft eingestreut: Diaspora at its best!  Noch ist allerdings nicht abschließend geklärt, welche Zukunft die Indigenen in der argentinischen Gesellschaft haben und wie ihre Kultur auch von der evangelischen Gemeinde Ruiz de Montoya noch mehr wertgeschätzt werden kann.

Ebenfalls beherzt und auf überzeugende Weise reagiert die Evangelische Kirche am Rio de la Plata auf die Herausforderung der wachsenden Stadt Posadas. In der Provinzhauptstadt mit ca. 500.000 Einwohnern wächst eine junge Gemeinde heran. In die Stadt, deren Anfänge 40 bis 50 Jahre zurückreichen, kommen junge Leute zum Studium. Auch befinden sich hier die wichtigen Krankenhäuser der Provinz. Das 2015 erworbene Gebäude in der Mitte der Stadt und in Krankenhausnähe ist inzwischen abgerissen und es wurde (mit Unterstützung des GAW) das Erdgeschoss eines neuen Gebäudes mit Kirch- und Gemeindesaal, Toiletten und Büroraum errichtet. (Bilder) In den kommenden drei Monaten soll das erste Stockwerk im Rohbau fertig werden. Hier werden dann Studierendenzimmer, insbesondere für Studierende aus Gemeinden der eigenen Kirche, sowie Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige von Kranken, die im benachbarten Krankenhaus behandelt werden, entstehen. So soll Menschen, die sich sonst womöglich in der Großstadt verlieren, eine (auch geistliche) Heimat gegeben werden. Auch dieses Projekt dient der Diaspora, der Einstreuung des Evangeliums in die argentinische Gesellschaft.

Bei unserer Reise haben wir allerdings auch gesehen, wie Diaspora in einer Minderheitskirche nicht gelingt: San Vicente ist eine von sieben Filialgemeinden einer Gesamtgemeinde. Ihre kleine Holzkirche wurde mit Hilfe des Gustav-Adolf-Werkes saniert (Bilder). Im Gespräch mit den Verantwortlichen der Gemeinde ließ sich jedoch keinerlei Vision für den Gemeindeaufbau erkennen, eher war Mutlosigkeit zu spüren. Viele Gemeindeglieder seien auf Grund der liberalen Position von Synode und Kirchenleitung zu sexualethischen Fragen zu einer konservativen lutherischen Kirche abgewandert, hieß es. Auf unsere Frage, wie denn die Gemeinde mit den Menschen in ihrer Umgebung in Kontakt trete, hieß es, man verkaufe ab und an gegrilltes Fleisch. Das sei sehr lecker und werde gern genommen. (Bild) Die Gemeinde in San Vicente zeigt, dass längst nicht jede Minderheitskirche als Diaspora wirkt. Die Existenz als Minderheit darf also nicht idealisiert werden.

Im benachbarten Brasilien traf sich die Gesamtsynode der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien IECLB in der Provinz Rondonia im Amazonasgebiet. (Bilder) Die Amazonassynode ist die flächenmäßig größte, nach Mitgliedern jedoch mit 6.951 Personen die zweitkleinste Synode der IECLB. Die Entfernungen sind riesig. Von Porto Alegre (Kirchenzentrale) nach Cacoal (Sitz der Synodalpfarrerin = Superintendentin bzw. Dekanin der Amazonassynode) sind es 3.050 km. Auch die Gemeinden innerhalb der Amazonassynode liegen weit voneinander entfernt, so dass Pfarrer für ihre Dienste (Gottesdienste, Bibelstunden, Besuche) zwischen 1.000 und 3.000 km pro Monat zurücklegen müssen. Die Synodalpfarrerin muss mehr als 3000 km fahren, um die am weitesten entfernte Gemeinde ihrer Synode zu erreichen. Der Synodalpräsident, der ganz im Norden der Synode wohnt, legt alle zwei Wochen 300 km (für eine Strecke, also insgesamt 600 km) zurück, um in seiner Gemeinde Gottesdienst zu feiern. Gefahren wird weitgehend auf Erdstraßen, die während der Regenzeit teilweise unwegsam sind. (Bilder) Hier wird unmittelbar erkennbar, wie wichtig, ja notwendig, die Motorisierungshilfen durch das GAW sind. Die Kirche spielt seit den Anfängen in der Region eine sehr wichtige Rolle. Sie unterstützt die Menschen in ihrem oft harten und entbehrungsreichen Leben und ermutigt sie. (Bild) Besonders schwer war das Leben der Menschen kurz nach ihrer Ansiedlung: Sie rodeten den Urwald – heute ein extrem schwieriges Thema - und litten unter Krankheiten wie Malaria. Etliche, die aus dem im Süden des Landes gelegenen Espiritu Santo gekommen waren, sehnten sich dorthin zurück. Die Pfarrpersonen waren extrem wichtig und sie sind es bis heute, weshalb das GAW gerade den Bau dieses Pfarrhauses unterstützt. (Bild) Unter den Bedingungen im Amazonasgebiet heißt Diaspora vor allem, die verstreuten Gemeindeglieder zu sammeln und zu stärken. Das ist nicht ohne Konflikte, wie das Beispiel Apui, das weit im Norden des Bundesstaates und der Synode liegt, eindrücklich zeigt. In Apui entsteht gerade eine Gemeinde, die die IECLB um einen Pfarrer oder eine Pfarrerin bittet. Die Gemeindeglieder, die aus der Region Rondonia gekommen sind und sich auf Grund politischer Anreize in Apui angesiedelt haben, roden wie ihre Vorfahren den Regenwald, oft durch großflächige Brände. Hier gibt es für die Gesamtkirche einen Zielkonflikt: Einerseits weiß sie sich der Bewahrung der Schöpfung, andererseits ihren Gemeindegliedern verpflichtet. Das ist ein Konflikt, den wir in Deutschland im Blick auf die Landwirtschaft durchaus kennen und über den mit unseren Partnern ins Gespräch zu kommen sich gewiss lohnen würde.

Eine Diasporaexistenz der besonderen Art führt schließlich die Martin-Luther-Gemeinde in der Millionenstadt Sao Paulo. (Bilder) Im Zentrum der Stadt gibt es seit 1905 eine lutherische Kirche. (Bild) 500 Familien (ca. 1.300 Personen) gehören zur Gemeinde. Sie leben weit über die Millionenstadt (ca. 9 Mio Einwohner, ca. 18 Mio im Großraum Sao Paulo) verstreut. Eine „normale“ Gemeindearbeit mit Gruppen und Kreisen ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. Die beiden Pfarrer machen viele Besuche, was auf Grund der eigentlich immer chaotischen Verkehrsverhältnisse viel Zeit in Anspruch nimmt. Die Gemeinde zeichnet sich besonders durch ihre Obdachlosenarbeit aus, die vor 21 Jahren begann. Im Umfeld der Kirche ist das Problem der Obdachlosigkeit an jeder Ecke zu sehen (und zu riechen). (Bild) Die Gemeinde musste und wollte die Augen davor nicht verschließen. Inzwischen werden drei Mal in der Woche die Tore geöffnet und ca. 150 Obdachlose erhalten ein Lunchpacket, ruhen sich im Innenhof der Kirche aus, trinken etwas und können sich waschen. Dazu kommt ein weiterer wichtiger Dienst: Die Kirchengemeinde bewahrt in ihren Räumen für ca. 400 obdachlose Menschen deren persönliche Dokumente auf, da diese auf der Straße verloren zu gehen drohen. (Bild) Das funktioniert, weil es ein großes gegenseitiges Vertrauen gibt. Dramatisch wurde es für die Martin-Luther-Kirche, als am 1. Mai 2018 ein unmittelbar benachbartes, 24-stöckiges verlassenes Hochhaus Feuer fing. Hier hatten sich etliche Obdachlose einquartiert. 1.1/2 Stunden nach Ausbruch des Brandes stürzte das Hochhaus in sich zusammen und begrub eine bis heute nicht öffentlich bekannte Zahl von Menschen unter sich.  Durch die Druckwelle wurde ein großer Teil der Kirche zerstört. (Bild) Wie durch ein Wunder wurden Turm, Altarraum und ein Fenster mit der Lutherrose kaum beschädigt. Inzwischen stehen – dank der Hilfe vieler, auch des Gustav-Adolf-Werkes - die Wände wieder und das Dach ist geschlossen. So können nun wieder Gottesdienste gefeiert werden, doch wird noch viel Zeit und Geld aufzubringen sein, bis die Kirche wieder in altem Glanz erstrahlt. (Bild) Einer der Pfarrer berichtet von einem Gemeindeglied, das in der Zeit der Reparatur des Kirchbaus nicht etwa fragte: „Wann können wir wieder Gottesdienst in der Kirche feiern?“ sondern: „Wann können wir endlich die Obdachlosenarbeit wieder aufnehmen?“ Das ist Kirche als Diaspora. Die Dokumente der Obdachlosen blieben übrigens bei dem Brand alle unversehrt.

Liebe Schwestern und Brüder! „Es geht nicht mehr darum, in der Diaspora zu leben, sondern Diaspora zu sein.“ schrieb der Argentinier René Krüger vor nunmehr 11 Jahren. Ich habe versucht darzulegen, warum mir sein weiter Begriff von Diaspora, der von der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa geteilt wird, sehr einleuchtet. Und ich habe an Beispielen zu zeigen versucht, wie kleine und große Kirchen in Deutschland, Argentinien und Brasilien in zum Teil beeindruckender Weise heute Diaspora sind. Welche Konsequenzen der weite Diasporabegriff für das Diasporawerk der EKD, das Gustav-Adolf-Werk, haben könnte, habe ich nur angedeutet. Darüber müssen wir im Gespräch bleiben.

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