Reise nach Breslau im Herbst 2017

Fotorechte: Ulrike Combe von Nathusius

„Brückenstadt Breslau" – das könnte eine gute Überschrift einer Reise nach Polen, nach Niederschlesien sein. Auf Einladung der Frauenarbeit im Gustav-Adolf-Werk (GAW) und der Frauenarbeit in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) haben sich dreiundzwanzig Frauen aus dem gesamten Bereich der EKKW auf den Weg gemacht. Breslau - polnisch Wroclaw – ist mit etwa 640.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Polens und steht an vierter Stelle der brückenreichsten Städte Europas. Von den mehr als einhundert Brücken konnten wir bei den Stadterkundungen bis hin zur Dominsel nur den geringsten Teil kennenlernen. Profunder Kenner seiner Heimatstadt, Dr. Janusz Witt, ein rüstiger Rentner und engagierter Mitarbeiter der evangelischen Gemeinde, ist für einige Tage unser Begleiter. Er begeistert uns und lenkt den Blick auf die Schönheiten Breslaus. Bei aller Begeisterung werden die dunklen Seiten und Zeiten aus der Vergangenheit nicht ausgeklammert. Mehrmals sind wir mit Dr. Witt zu interessanten Erkundungen in der Altstadt unterwegs. Schon bald zeigt sich, dass es in Breslau außer den realen Brücken andere Brücken zu entdecken gibt. Herr Witt führt uns in das „Stadtviertel der gegenseitigen Achtung". In unmittelbarer Nachbarschaft liegen eine evangelische, eine katholische und eine orthodoxe Kirche sowie eine jüdische Synagoge. Verantwortliche aus den Gemeinden riefen vor gut zwanzig Jahren eine Initiative mit dem Ziel ins Leben: gegenseitige Achtung der verschiedenen Glaubensrichtungen vorzuleben. Wechselseitig laden sich die Gemeinden zu ihren Festen ein. Es gibt Konzerte sowie Vorträge über die verschiedenen religiösen Traditionen. In dieses Projekt sind auch Kinder und Jugendliche einbezogen. So hat es uns nicht überrascht, beim Besuch der Synagoge einer Schulklasse zu begegnen. Das „Stadtviertel der gegenseitigen Achtung" versteht sich als Brückenbauer. Ein solches Projekt könnte man sich auch für deutsche Städte vorstellen.

Als Brückenbauer versteht sich auch die „Evangelische Gemeinde der göttlichen Vorsehung" mit der gleichnamigen Kirche, früher „Hofkirche". Der Bau der Kirche geht auf Friedrich d.G. zurück. Die polnische evangelische Gemeinde wurde 1945 von lutherischen Christen gegründet, die aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Breslau kamen. Heute zählt die Gemeinde rund 700 Mit-glieder und gehört damit zu den großen Gemeinden in der polnischen Diaspora. Sie sieht sich als offene Gemeinde und pflegt intensive ökumenische Kontakte. Sie versteht sich als Brücke zwischen polnischem und deutschem Protestantismus und möchte die deutsche Geschichte des Luthertums in Schlesien aufrecht erhalten. Beim sonntäglichen Gottesdienst erleben wir eine lebendige Gemeinde. Gottesdienst in einer Diasporagemeinde mitzufeiern, das ist immer ein Erlebnis. Ausgestattet mit Kopfhörern, Herr Witt übersetzt, können wir dem Gottesdienstverlauf folgen und fühlen uns in das Geschehen einbezogen. Beim anschließenden Austausch im Gemeindehaus kommen wir mit Mitarbeiterinnen und Gemeindegliedern ins Gespräch. Beeindruckt sind wir von den Schilderungen einer aktiven Gemeindearbeit, den Angeboten für Kinder bis hin zu den Senioren. Als Beispiel sei genannt, wie der Kontakt zwischen den verschiedenen Generationen praktiziert wird. So laden sich Jugendliche und Senioren gegenseitig zum Essen ein, das sie zuvor gemeinsam vorbereitet haben.
Einen Einblick in die Evangelische Kirche der Augsburger Konfession in Polen gibt uns Bischof Ryszard Bogusz. Seit 1994 ist er als Bischof für die Breslauer Diözese – diese reicht von Stettin bis zum Riesengebirge – zuständig. Als Lutheraner leben sie in Breslau in tiefer Diaspora. Trotzdem bleibt das Ziel, Präsenz zu zeigen und auszubauen. Dazu bietet das Jubliläumsjahr 2017 eine gute Möglichkeit. Es gebe in der Bevölkerung große Vorbehalte gegenüber Protestanten, so Bischof Bogusz. 21% der Polen kennen überhaupt keine Protestanten. Bei 0,2% der Gesamtbevölkerung ist das nicht verwunderlich. Auch innerhalb der sechs Diözesen der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen gibt es große Unterschiede. Die Diözese Breslau zählt zu den wohlhabenderen Diözesen im Unterschied zu ärmeren Diözesen in Ostpolen. Auch da müssen Brücken gebaut werden.

Gäbe es nicht die Diakonie der Evangelisch – Augsburgischen Kirche in Polen, müssten viele Menschen ohne Hilfe auskommen. Die Sozialpolitik ist in Polen noch im Aufbau. Anhand fundierter Zahlen zieht Wanda Falk, die Generaldirektorin der „Diakonia Kosciola", eine düstere Bilanz. Da kommen die Angebote und Einrichtungen der polnischen Diakonie zum Tragen. Wanda Falk berichtet unserer Frauengruppe vom breit gefächerten Arbeitsfeld der polnischen Diakonie. Eines dieser Arbeitsfelder stand 2014 im Focus der Frauenarbeit im GAW: die finanzielle Unterstützung des Projektes einer mobilen Schule, um ‚Eurowaisen' betreuen zu können. Dankbar erinnert Wanda Falk an diese Maßnahme. Die sozialdiakonischen Einrichtungen und Leistungen der polnischen Diakonie stehen unter dem Motto „....immer für die Menschen da". Einen besonderen Schwerpunkt der unterschiedlichen Einrichtungen und Angebote bildet „Das Evangelische Martin-Luther-Zentrum für Diakonie und Bildung" in Breslau. In Begleitung von Direktorin Wanda Falk und Bischof Ryszard Bogusz machen wir uns auf den Weg. Außerhalb der Innenstadt erwartet uns eine parkähnliche Anlage mit einer Anzahl stattlicher Gebäude, deren Erbauung hundert Jahre zurückliegt. Wir beobachten Kinder aus dem Kindergarten auf dem Spielplatz, Jugendliche während einer Pause auf dem Schulhof, ältere Menschen beim Spaziergang im Park. Zehn verschiedene Einrichtungen befinden sich auf dem Gelände. Als Gäste werden wir willkommen geheißen und bekommen von den zuständigen Leiter*innen viele Informationen. In einem Trakt sind unter einem Dach sowohl ein Pflegeheim für Senioren und eine evangelische Kindertagesstätte beheimatet. Bildung wird im Martin-Luther- Zentrum sehr groß geschrieben. Entsprechend ihrer Fähigkeiten können Heranwachsende einen staatlich anerkannten Schulabschluss machen. Einen kurzen Blick werfen wir in eine polnisch-deutsche Grundschule, dort schallt uns ein „Guten Tag" entgegen.

Ein Aufenthalt in Breslau wäre für unsere Frauengruppe unvollständig, würde nicht die Erinnerung an Edith Stein (1891 bis 1942), Katharina Staritz (1903 bis 1953) und Dietrich Bonhoeffer (1906 bis 1945) wachgerufen. Nicht nur der gemeinsame Geburtsort stellt etwas Verbindendes dar, sondern auch die Vita. Bei einer Gesprächsrunde nähern wir uns dem Leben von Edith Stein und Katharina Staritz. Anschließend begeben wir uns auf Spurensuche in Breslau. An einigen Stellen in der Stadt werden wir fündig. Dr. Janusz Witt führt uns in der Kirche „Maria Magdalena" zu einer Gedenkstätte für Katharina Staritz. In dieser vor dem Krieg evangelischen Kirche wurde Katharina Staritz 1938 zur Pfarrerin ordiniert. In Kurhessen-Waldeck und Hessen-Nassau hat Katharina Staritz segensreich gewirkt. Ein weiterer denkwürdiger Ort ist die „Elisabethkirche". Dort verweilen wir vor einer Bronzestatue und erinnern des großen Theologen und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer. Die Ver-ehrung für Edith Stein, der jüdischen und später katholischen Philosophin ist in vielen katholischen Kirchen Breslaus zu spüren und zu sehen. In ihrem Geburtshaus befindet sich heute die „Edith Stein Gesellschaft". Auch Edith Stein verstand sich als eine Brückenbauerin. Wohl aus diesem Grund wurde ihr die Ehrenbezeichnung „Patronin Europas" posthum verliehen.

Gegenüber der Dominsel führt uns Herr Witt zu einem weiteren besonderen Denkmal. In großen Buchstaben ist auf dem Pflaster der Satz zu lesen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung." An diesem Ort wird an den Beginn der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen / Deutschen und Polen erinnert. Dieses Denkmal ist für uns wie eine „Brücke" zwischen den Völkern.
Was bleibt als Erinnerung an diese Reise? Sehr Vieles. Die heute so idyllisch aufgebaute Stadt Breslau / Wroclaw ist eine lebendige Stadt, eine sehr junge Stadt. Dazu tragen auch die mehr als hundert-tausend Studierenden bei. Der Glanz als Kulturhauptstadt Europas 2016 ist nicht verloschen. Bei unserem Besuch wird die Stadt vom ‚goldenen Oktober' in warmes Licht getaucht. In Erinnerung wird auch das Stadtviertel der gegenseitigen Achtung bleiben. Nicht zuletzt begleiten uns die guten Begegnungen mit Menschen aus der evangelischen Kirche und Diakonie Polens. Breslau ist für uns zu einer Brückenstadt geworden: viele Facetten haben wir entdeckt. Ein herzliches Dankeschön an Inge Rühl - Leiterin der Frauenarbeit im GAW Kurhessen-Waldeck -; sie hat den Anstoß zu dieser Reise gegeben und in bewährter Weise vorbereitet und durchgeführt.

 

Ulrike Kany
Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit im GAW Kurhessen-Waldeck



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