Bericht zum hybrider Studientag am 3. Juli 2021 in Hanau

Der neue Vorstand des GAW Kurhessen-Waldeck mit Gästen des Studientags vor der Alten Johanneskirche in Hanau, Bildnachweis: medio.tv/Pongratz

„Die Diaspora am Nebentisch. Auf dem Weg in eine Kirche der Diaspora. Erfahrungen und Impulse für eine evangelische Kirche der Zukunft.“

Am 3. Juli 2021 fanden sich in der Alten Johanneskirche in Hanau rund 50 Teilnehmende, teils in Person, teils digital zugeschaltet, zu einem hybriden Studientag mit dem Titel „Die Diaspora am Nebentisch" zusammen. Gemäß dem Untertitel „Auf dem Weg in eine Kirche der Diaspora. Erfahrungen und Impulse für eine evangelische Kirche der Zukunft" ging der Studientag der Frage nach, inwiefern die Arbeit von Diaspora-Kirchen für die zukünftige Gestalt der evangelischen Kirchen in Deutschland wegweisend ist. Angeregt durch Impulse von Referierenden aus dem In- und Ausland wurde dabei versucht, die Diskussion um eine „Theologie der Diaspora" mit konkreten, lokalen Erfahrungen einer Diaspora-Existenz in Beziehung zu setzen und für eine Neubestimmung des Diaspora-Begriffs fruchtbar zu machen.

Zu Beginn des Studientags wurde der neue Vorstand des Gustav-Adolf-Werkes (GAW) Kurhessen-Waldeck in einer Andacht mit Prälatin Gabriele Wulz, Präsidentin des GAW Deutschland, und Oberlandeskirchenrätin Claudia Brinkmann-Weiß, Dezernentin für Diakonie und Ökumene in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), eingeführt.

Nach der Begrüßung und einem Grußwort von Dekan Dr. Lückhoff wurden alle Teilnehmenden eingeladen, ihre persönlichen Erfahrungen mit der Diaspora zu teilen. Bereits hier wurde die Ambivalenz des Begriffs deutlich, indem eine vielfältige Bandbreite von Erfahrungen zwischen Heimatgefühl und Zusammenhalt auf der einen und Minderheitenerfahrungen von Entfremdung bis Ausgrenzung auf der anderen Seite artikuliert wurden. Durch den Studientag führte Moderator Prof. Siegfried Krückeberg.

Prof. Dr. Klaus Fitschen, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Leipzig führte mit seinem Vortrag „Thesen zur «Theologie der Diaspora»" in die Thematik ein. Nachdem der ursprüngliche Gebrauch des Begriffs „Diaspora" auf das 19. Jahrhundert zurückgeht, wo er vor allem von entstehenden Hilfswerken als Fremdbeschreibung verwendet wurde, wird der Begriff heutzutage vor allem in den Kulturwissenschaften im Zusammenhang mit dem Thema Migration genutzt. Dass der Begriff, der von evangelischen Minderheitskirchen weiterhin nicht als Selbstbezeichnung verwendet wird, dennoch für den kirchlichen Kontext nicht verworfen wurde, sondern sogar einen Studienprozess der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) nach sich zog, mag daher zunächst verwundern. Die Bemühungen zur Neubestimmung des Diaspora-Begriffs gründen jedoch in der Einsicht, dass er theologisch wichtige Aspekte für Kirchen in Minderheitssituationen herausstellen kann. Ein positives Selbstbewusstsein der Diaspora bedeutet für die Kirchen: sich nicht als defizitär anzusehen, das evangelische Profil in die Gesellschaft einzubringen, Brückenort in der Bildungsarbeit vor Ort zu sein. Wichtig sei es nach Fitschen daran festzuhalten, dass es nicht die eine Theologie der Diaspora gebe, sondern viele. Nicht nur die Kontexte, in denen die Kirchen sich aktuell befinden, unterschieden sich teils signifikant. Auch die Transformationsprozesse seien an verschiedenen Orten unterschiedlich stark fortgeschritten. So seien etwa die ostdeutschen Landeskirchen schon lange Minderheitskirchen und bereits in anderer Weise mit der Frage nach ihrer gesellschaftlichen Rolle befasst als der westdeutsche Protestantismus.

Im Anschluss gab es vor Ort und digital unter dem Motto «Gelebte Diaspora» Gruppengespräche mit kirchlichen VertreterInnen aus Hanau, darunter Pfarrerin Katrin Kautz (Evangelische Stadtkirchengemeinde Hanau), Pfarrerin Dr. Elisabeth Krause-Vilmar (Evangelisches Forum Hanau), Pfarrer Torben Telder (Wallonisch-Niederländische Gemeinde Hanau) und Pastor Daniel Storek (Baptistengemeinde Hanau). In Kleingruppen erörterte man, wie kirchliche Akteure ihre Arbeit in einem Kontext wahrnehmen, in dem sie in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einer religiösen Minderheit wurden und fragte nach einem progressiven theologischen Leitbild für diesen Erfahrungskontext.

Am Nachmittag ging weiter mit Vorträgen von Gästen, die ihre Erfahrungen aus der gelebten Diaspora im internationalen Kontext teilten. Wanda Falk (Diakonie Polen), Simona Prosič-Filip (Lutherische Kirche in Slowenien) und Nicolas Rocher-Lange (ehemals Pfarrer der Église Protestante Unie de France) schilderten in kurzen Interviews mit Moderator Prof. Krückeberg vor welchen Herausforderungen sie sich als Kirche in Minderheitssituationen gestellt sehen und wie das ihren Blick in die Zukunft beeinflusst.

Anhand konkreter Beispiele verdeutlichten die drei Referierenden in ganz unterschiedlicher Weise wie es ist, wenn die Evangelische Kirche weniger privilegiert ist, wenn es rechtliche Ungleichgewichte gibt, weniger finanzielle Mittel für die Arbeit zur Verfügung stehen und die Nachwuchsprobleme groß sind. Andererseits machte der Blick ins Ausland deutlich, wie fruchtbar die Arbeit in der gelebten Diaspora auch sein kann: Da insbesondere die ökumenische Zusammenarbeit in der Minderheitssituation stark betont wird, kann die Evangelische Stimme sich vielerorts als wichtiger gesellschaftlicher Akteur etablieren, die offen für Kooperationen ist und der in gesellschaftlichen Debatten eine wichtige Position zugestanden wird.

Zum Schluss referierte Dr. Mario Fischer, Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), zum Thema «Früchte der Theologie der Diaspora» für die Praxis. Angesichts der begonnenen Transformationsprozesse ständen die Kirchen vor großen Herausforderungen, die aber auch Chancen bürgten. Wenn Diaspora als Beziehungsbegriff verstanden wird, ließe sich nach Fischer darunter die Praxis verstehen, Beziehungsfülle vor Ort zu gestalten und im jeweiligen Kontext neue Koalitionen zu bilden, um die kirchliche Arbeit zukunftsfähig zu machen. Kirche dürfe sich nicht aus der Gesellschaft zurückziehen. Die Gefahr liege gerade darin, dass die Kirchen sich angesichts der innerkirchlichen Strukturdebatten zu stark auf binnenkirchliche Fragen beschränken statt sich in ihren Sozialraum einzubringen. Entscheidend sei es dagegen, die eigene christliche Botschaft sichtbar zu machen. Schließlich verdeutlichte Fischer, dass die Pusteblume, ein Symbol für die Theologie der Diaspora sein könne. Wie die Samen einer Pusteblume verstreut werden, so ginge es für die evangelischen Kirchen darum, sich in die Welt einzustreuen und in der Welt Frucht zu bringen.

Nach einer abschließenden Gesprächsrunde in Kleingruppen konnten alle Anwesenden teilen, was sie aus dem Studientag mitzunehmen gedachten. Sehr positiv aufgenommen wurden die Begegnungen mit den Gästen aus der internationalen Diaspora, die gegenseitige Vernetzung und die Ermutigung, trotz des Wenigerwerdens vertrauensvoll in die Zukunft zu gehen.

Inge Rühl (Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Frauenarbeit im GAW) und Pfarrerin Birgit Hamrich (Zentrum Oekumene) bedankten sich als Veranstalterinnen bei allen Beteiligten. Ein Ziel sei es gewesen, die Diskussion um die Zukunft der evangelischen Kirchen anzuregen und alle Beteiligten dazu zu ermutigen, die Erfahrungen des Tages in die eigenen Kontexte einzubringen. Das GAW werde auch weiterhin ein zuverlässiger Partner sein und Begegnungen gestalten. Sicher sei nach dem heutigen Tag, dass die Diaspora nicht mehr am Nebentisch zu platzieren sei, sondern als gute und verheißungsvolle Tischnachbarin bereits mitten unter uns sitzt.
Der Studientag war eine gelungene Kooperationsveranstaltung des Gustav-Adolf-Werkes (GAW) Kurhessen-Waldeck, des Zentrums Oekumene der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, und des Evangelischen Forums Hanau.

Elisa Schneider
Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit im GAW Kurhessen-Waldeck

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